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So regen wir die Ruder

Als ich ihm das erste Mal begegnete, hätte ich ihn beinahe übersehen. Er saß auf einer Bank gegenüber dem kleinen Buchladen und las ein Buch. Damals verließ ich den Laden gerade mit einem Taschenbuch, verpackt in einer Papiertüte, und wollte an ihm vorbeigehen. Doch im Augenwinkel kam mir der blaue Buchumschlag bekannt vor. Es stellte sich als eines der wenigen Bücher heraus, die in meinem Regal an Ehrenstelle standen. „Der große Gatsby“ von F. Scott Fitzgerald. Die Augen von Dr. T. J. Eckleburg starrten mich vom Buchumschlag an und schienen mich zu fixieren. Ich glaube, es war einer der Momente, der eigentlich nur eine Sekunde zu dauern scheint, aber vor dem geistigen Auge mehrere Minuten anhält. In diesem Moment schienen die Synapsen meines Gehirns verrückt zu spielen. Im Geiste durchflog ich die Handlung des Buches. Von der ersten Party bis hin zum Tod von Gatsby persönlich. Der Charme der 20er hatte mich schon immer fasziniert. Dann schossen mir die Worte meiner Schwester durch den Kopf: „Also manchmal solltest du vielleicht auch auf Menschen zugehen, die deine Interessen teilen.“ Also sprach ich ihn zögerlich an: „Ich denke, Gatsby ist wohl der Sympathischste in diesem ganzen Roman. Traurig wie es mit ihm ausgeht"

 

Nun saß ich auf der Kante unseres Bettes und wartete. Ich wartete darauf, dass er zurückkommen und es mir erklären würde. Sein Chef hatte angerufen und gefragt, wann mein Mann denn wieder arbeiten könne und ob er sehr krank sei. Verstört hatte ich kurzerhand mitgespielt, während ich innerlich hoffte, dass alles nur ein Irrtum war. Er hatte mir erzählt, dass er auf Dienstreise müsse und erst heute gegen sieben nach Hause kommen würde. Inzwischen war es sieben Uhr elf und ich hatte immer noch nicht gehört, wie sein Schlüssel im Schloss kratzte und die Türe mit einem Knirschen aufschwang. Das Haus schien in Leere gehüllt zu sein.

Meine Augen brannten noch immer von den unterdrückten Tränen, die dann trotzdem meine Wangen herunter geronnen waren. Angst schien mich zu lähmen und meine Atemwege zu blockieren. Die Schnappatmung hatte kurz nach dem Auflegen eingesetzt, als ein Teil meiner Brust sich aus meinem Körper schälen wollte.

Hinter vorgehaltener Hand hatte ich schon öfters Gerüchte über ihn gehört. Ach, hätte ich dem doch mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Nun war es zu spät.

Neben mir stand sein Koffer, gefüllt mit all seinen Kleidungsstücken und Habseligkeiten. Er sollte verschwinden und nimmer mehr zurückkehren.

Wenn er mich schon verließ, dann doch mit allem, was er besäße und mich an ihn erinnern könnte.

Erst gegen acht hörte ich, wie die Tür aufschwang und seine Schritte laut durch das Treppenhaus hallten. Er kam erst nach einigen Minuten nach oben, um mich zu suchen, da ich auf sein Rufen nicht reagierte.

Schließlich trat er in den offenen Türrahmen und es kehrte wieder eine beschämende Stille im Haus ein. Ich konnte den Schock in seinen Zügen erkennen, als er meine verweinten Augen und den, aus allen Nähten platzenden, Koffer neben mir sah. Eine Spur Angst tauchte sein Gesicht in tiefe Schatten und ließ ihn um Jahre älter erscheinen.

„Dein Chef hat angerufen.“, sagte ich, genauso zögerlich wie damals. „Er hat gesagt, dass du krankgeschrieben bist.“

Die Monotonie meiner Stimme erschreckte mich selbst. Als würde alles an mir vorübergehen. Als sei ich nur der Erzähler der Geschichte und nicht betroffen. Wie T. J. Eckleburg, betrachtete ich nur die Ereignisse, die in Schutt und Asche getaucht zu sein schienen.

„Ich kann dir alles erklären.“ In meinem Inneren japste etwas auf. Diesen Satz hatte mein Bewusstsein erwartet und er war so klischeehaft, wie unser Kennenlernen. Fast hätte ich wohl vor der Absurdität dieser Szenerie den Hut gezogen und hätte laut aufgelacht. Der Schmerz war für eine Sekunde wie vergessen, bis er, wie ein Stich in mein gebrochenes Herz, zurückkehrte.

„Nein, nein, ich will das nicht hören. Versuch es mir bitte nicht zu erklären. Ich kann mir meinen Teil denken.“

Plötzlich schien ich nur noch müde zu sein: „Geh, bitte!“

„Aber, ich…“, er konnte nicht mehr ausführen, was er versuchte zu sagen. Ich fiel ihm einfach ins Wort: „Verschwinde, verschwinde einfach!“

Nun schrie ich fast. Nein, ich schrie wirklich. Meine Kehle fühlte sich hiernach ganz wund an, mein Gesicht war nass und mein Schädel dröhnte. Mit letzter Kraft raffte ich mich auf und stieß ihm den Koffer vor die Füße. Verdutzt blickte er auf den dunklen Plastik-Trolli, machte aber keinerlei Anzeichen ihn aufheben zu wollen.

„Verschwinde“, wiederholte ich ein letztes Mal und starrte ihm dabei direkt in die Augen. Ein Schimmer Erkenntnis durchfuhr ihn plötzlich und es schien, als hätte er auf einmal alles verloren.

„Bitte, lass es mich erklären. Es war ein Versehen. Ich musste es tun.“

„Sind das deine letzten Worte an mich?“

„Bitte, hör mich doch an“, brüllte er und fuhr sich durch das zerzauste Haar.

„Verschwinde! Verlass dieses Haus!“, sagte ich und drehte mich von ihm weg. Schweigend starrte ich aus dem Fenster. Als ich immer noch nichts hörte, brach ich das kurze Schweigen und äußerte mich mit fester Stimme:

“Sofort!“

Von meiner Abneigung ihm gegenüber wohl so erschüttert, wandte er sich nach kurzer Zeit ab und verließ, den Koffer hinter sich her schleifend, das Haus. Das Geräusch seiner letzten Schritte klingt immer noch in meinen Kopf, wenn ich an diese Nacht zurückdenke.

Als er den Garten durchquerte und ich ihm nachsah, durchfuhr mich noch ein letzter Funken Mut.

„Acht Jahre! Heute sind es genau acht Jahre!“, schrie ich noch hinaus in die Finsternis und ließ mich dann auf das weiche Bett fallen. Völlig erschöpft und kraftlos, fiel ich in die Kissen zurück.

 

Als ich in dieser Nacht einschlafen wollte und allein in unserem Bett lag, starrte ich auf das Bücherregal an der gegenüberliegenden Wand, wo wir seine Version des großen Gatsbys ausgestellt hatten. Die Augen auf dem Umschlag fixierten mich jede Nacht und jede Nacht verstand ich umso mehr, was Daisy durchlitten hatte. Seine Treue war wohl verschwunden mit dem Tag, an dem er mich zur Frau nahm. Und jedes Mal, wenn ich allein über das Warum grüble, kommt mir ein Zitat aus dem Buch in den Sinn.

„So regen wir die Ruder, stemmen uns gegen den Strom - und treiben doch stetig zurück, dem Vergangenen zu.“

- F. Scott. Fitzgerald, Der große Gatsby

 

 

 

 

 

N. W

 

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