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Sie

Wieder sitze ich mitten in der Nacht auf meinem Fensterbrett, schaue durch das Glas und beobachte die vielen Wassertropfen, in denen sich die bunten Lichter der Ampeln, Laternen und Autoscheinwerfer spiegeln. Das Geräusch des Regens, der gegen das Fenster prasselt, beruhigt mich auf eine wundersame Weise, und doch werde ich nicht müde, denn meine Gedanken wollen nicht aufhören, in meinem Kopf herum zu kreisen. Alles hier erinnert mich an sie, der Schrank, den ich mit ihr teilte, unser gemeinsames Bett, der Schreibtisch, an dem ich so oft saß und ihr meine Texte vorlas, der Spiegel, durch den ich sie mich anlächeln sah, und die vielen Bilder von uns, die meine Wand bedecken. Ja, sogar das ruhige Lied, welches leise durch die Musikboxen dringt, dessen Liedtext meine Gefühle verkörpert. Die sanfte Melodie dringt in meine Ohren und meine Finger tippen im Einklang mit ihr vorsichtig auf den Block in meinem Schoß. Ich betrachte die wenigen Worte, die bereits auf dem Papier zu finden sind, überfliege die kurzen Sätze und schüttle dann enttäuscht den Kopf. Trotzdem setze ich den Stift erneut an und versuche meine Gefühle niederzuschreiben. Während die Spitze des Füllers elegant über die Seite gleitet und die blaue Tinte Wörter bildet, schießen mir tausende Erinnerungen durch den Kopf. Bilder, die ich nie vergessen wollte, und doch merke ich, wie sie langsam undeutlich werden, wie Details verschwinden, Umrisse verschmelzen und Abläufe verwechselt werden. Vergeblich versuche ich die Szene vor meinem inneren Auge zu behalten und muss meinen Blick schließlich doch wieder auf das Blatt richten, auf dem sich einige neue Sätze befinden. 

 

Das Lied stoppt und langsam beginnt eine neue Melodie, bis die sanfte Stimme einsetzt. 

 

Ohne mir den Text erneut durchgelesen zu haben, streiche ich alles und schließe meine Augen. Das Bild meines Zimmers verschwindet langsam und Emotionen kommen in mir hoch. In meiner Brust sammelt sich ein Gefühl der Trauer, darüber, dass uns nun hunderte Kilometer und vielleicht ein paar Welten trennen. Erst in diesem Moment wird mir erneut wirklich klar, dass ich sie habe gehen lassen. Damals wollte ich sie nicht einschränken, wollte dass sie ihren Traum lebt. Ich wollte nicht egoistisch sein. Heute frage ich mich, warum ich so naiv war zu glauben, es würde ihr besser gehen ohne mich. Ich hätte sie nicht gehen lassen sollen, hätte sie nicht glauben lassen sollen, ich würde sie nicht brauchen und hätte ihr reines Herz nicht auf diese Weise einfach brechen lassen sollen. 

 

Vor etwa fünf Jahren, als ich sie das erste Mal sah, bemerkte ich sie kaum. Ich war viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Die neue Umgebung, in die ich kam, überforderte mich zunächst, ich zog mich zurück und wollte mich vorerst nur an mein Umfeld gewöhnen. Meine beste Freundin hingegen war voller Vorfreude, neue Leute zu treffen und mischte sich sofort unter die anderen. So lernten wir uns langsam kennen. Meine Erinnerungen an unsere erste Begegnung sind noch deutlich, und doch ist es ein Moment, an den ich mich trotz seiner Bedeutung nicht gerne zurück erinnere. Zu viele schlimme Dinge würden deshalb geschehen. 

 

Schnell öffne ich meine Augen wieder, um den folgenden Gedanken möglichst aus dem Weg zu gehen. Vor mir erscheint verschwommen das vertraute Zimmer, das mit schönen Erinnerungen gefüllt ist. Immer noch dringen leise Töne durch den Raum und scheinen jeden Winkel auszufüllen. Langsam stehe ich vom Fenster auf und lege, bereits einzelne Tränen verlierend, den Schreibblock in seine Schublade zurück. Gründlich begutachte ich mit meinen verheulten Augen das dunkle Holz des Tisches, welches durch das wenige Licht beinahe wie schwarz erscheint, suche seine Oberfläche nach etwas ab. Meine Finger tasten nach dem kleinen glänzenden Gegenstand, welcher mir doch so viel bedeutet. Vorsichtig umschließe ich den Kettenanhänger mit meiner Hand und betrachte dabei das Foto dieses so perfekten Momentes. In meiner Brust verspüre ich Wärme und Geborgenheit, das kalte Metall in meiner Hand erwärmt sich langsam, und als ich meinen Blick wieder von dem Bild lasse, auf dem sie so glücklich scheint, merke ich, dass es nur noch leicht nieselt. Das so beruhigende Geräusch ist unregelmäßig und leiser geworden, die Musik jedoch hat noch nicht aufgehört zu spielen, und als würde sie hier bei mir sein, wechselt noch einmal das Lied und die ersten Töne ihres Lieblingsliedes erklingen. Mein Körper ist in eine ungewöhnliche Wärme gehüllt und wieder nimmt mich der Klang des Songs ein, lässt mich wissen, dass ich sie zwar nicht hatte retten können, dass aber doch alles seinen Lauf genommen hat. All dies lässt mich begreifen, dass es kein Fehler war, ihr Freiheiten zu lassen und ihr zu vertrauen, denn ich weiß, dass es die Gesellschaft war, die sie zerstörte und nicht ich, ihre Freundin, die alles an ihr liebte, nein liebt. Immer hatte ich versucht, sie zusammenzukleben, aber letztendlich war sie doch gebrochen. 

 

Und mit dem letzten Ton der Musik, fällt eine einsame Träne zu Boden und zerplatzt auf dessen Oberfläche, während ich mir einbilde, ein leises „Danke, ich liebe dich“ zu hören, welches leise widerhallt und in der Ferne zu verschwinden scheint. 

 

 

 

L. S.

 

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